Über Tilman Küntzel Sonambiente-Projekt 2006

 

   Zu unserem kollektiven musée auditive, das nicht Bilder, sondern Klänge speichert, gehört zweifellos die sich vor Begeisterung überschlagende Stimme des Radioreporters, der das Siegtor der deutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern verkündete. Dieses lang gezogene „TooorTooorTooor“ annoncierte mehr als nur ein Tor. In ihm lag die unerwartete Wiederauferstehung einer im Zweiten Weltkrieg bedingungslos geschlagenen Nation. Geschlagen nicht nur durch den militärischen Sieg der Allierten, sondern auch durch die vollständige moralische Diskreditierung seiner selbst. Sportkämpfe und Fußballspiele, Soziologen haben oft genug darauf hingewiesen, sind Ersatzkriege. Insofern war Bern 1954 ein historisch bedeutendes Ereignis, das sein gültiges akustisches Symbol im „Tor“-Gebrüll des deutschen Radioreporters fand.  

Tilman Küntzels künstlerisches Projekt für die Berliner Sonambiente 2006 operiert mit den agonalen Energien der aktuellen Fußballweltmeisterschaft. In seiner „Klangwand“ hat er 64 Fußbälle wie Pokale installiert, die als skulpturale Metonymien alle Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft repräsentieren. Darüberhinaus hört man aus den einzelnen Bällen collagierte Radioreportagen in den Landessprachen der gegeneinander stehenden Mannschaften. Wenn sich am Ende der Meisterschaft die Stimmen zu einem synchronen und energetischen Klangteppich verweben, ist darin der aggressive Kampf wie das friedliche Miteinander aller eingelagert. Küntzels Installation, in der sich auditive, plastische und performative Motive bündeln, ist charakteristisch für das Werk des Künstlers, das sich nicht von Gattungsgrenzen einschränken lässt.  

Den kontemplativen ersten Part des Küntzel-Projektes ergänzt ein interaktiver zweiter Part. Auch seine installativen Dispositive fungieren als Referenten, die auf die Kräfte des Fußballereignisses verweisen. Ohne direkte Spiegelung ist der Fußball kritisch darin aufgehoben. Küntzels „Schlafröhre“ bietet dem durch die Wettkämpfe psychisch gestressten Besucher eine temporäre Rückzugsmöglichkeit, die zugleich Temperatur und Temperament der Wettkämpfe charakterisiert. Küntzels „Blutdruck-Messstation“ verweist auf die emotionale Belastung, welcher der Fan während der Spiele ausgesetzt ist. Und Küntzels „Defibrillator“, ein mobiles Gerät zur akuten Behandlung von Herzinfarkten, rückt den Ernstfall eines möglichen break down des Fans noch stärker vor Augen.  

Die installativen Dispositive des zweiten Parts nennt der Künstler in seiner Projektbeschreibung „Maßnahmen zur Instandhaltung des Klangkörpers Fan“. Die sanfte Ironie, die in der Etikettierung des Fans als „Klangkörper“ liegt, macht Küntzels artistische Strategie deutlich. Die per Mikrophon in den Klangraum geschleusten Geräusche des Blutdrucks der Fans sowie die sprachlichen Anweisungen des „Defibrillators“ für den Patienten-Notfall verbinden sich mit den erregten Live-Reportagen der Spiele zu einer eindrucksvollen akustischen Collage, in der die Leidenschaften der Akteure ebenso aufgehoben sind wie die der Zuschauer. So gelingt Tilman Küntzel mit seinem „Klangraum“ das Kunststück, Glanz und Elend des Fußballs synästhetisch zu verdeutlichen und zu verdichten.

Michael Stoeber, März 2006