Oliver Schneller

Eröffnungsrede zu BLINDFOLDED, Magdeburger Dom 2009

Pünktlich zur alljährlichen Ankunft der Starenschwärme am Himmel über Berlin eröffnete 2004 ein mehrtägiges Symposium unter dem Titel „Stare über Berlin“. Diese Veranstaltung fand unter Beteiligung von Künstlern, Ornithologen, Verhaltensforschern, Musikern und  Musikwissenschaftlern statt, die sich jeweils von unterschiedlichen Standpunkten aus der Phänomenologie des Vogelgesangs annäherten, um der Frage, nach dessen Einfluss auf künstlerische und ästhetische Formen auf die Spur zu kommen. Das Symposium stand unter dem Motto KLANGKUNST TRIFFT BIO-MUSIKOLOGIE und gliederte sich in die unterschiedlichsten Themenbereiche: einführenden philosophischen Betrachtungen über die Formation der Starenschwärme folgten wissenschaftliche Referate zum Sozialverhalten dieser Spezies. Kommunikationswissenschaftler äusserten sich zur Lautäußerung und Stimmen-Imitations-Fähigkeit der Stare, Neurophysiologen untersuchten Hörmechanismen im Gehirn von Vögeln und Menschen. In der Veranstaltungsreihe ÄSTHETISCHE ANALOGIEN DES VOGELSANGS schliesslich, wurde an verschiedenen Spielorten in Berlin ein faszinierendes Programm von Klanginstallationen und Konzerten mit Bezug zum Vogelgesang präsentiert.
Der Initiator und Kurator dieses in Berlin einmaligen Projektes war: Tilman Küntzel.

Ich erwähne dieses Projekt deshalb in einigem Detail, da sowohl die Konzeption des Symposiums wie auch die Ansatzweise unzweifelbar Tilman Küntzels persönliche und künstlerische Handschrift trägt und somit einige charakteristische  Eigenschaften dieses Künstlers anklingen, die auch zum Verständnis seiner heute Abend eröffneten Arbeit «Blindfolded» im Auftrag des Magdeburger Musikvereins und im Rahmen des  6. Magdeburgischen Concerts beitragen können.

Aber zuvor lassen sie mich einige der wichtigsten Stationen von Küntzels Werdegang schlaglichtartig hervorheben :
• geboren 1959 – Kunststudium Ende der 80er Jahre an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Claus Böhmler und Henning Christiansen –
• dem schloss sich Anfang der Neunziger Jahre die Immatrikulation im Bereich systematische Musikwissenschaft an der Uni Hamburg an. Es folgen mehrere Stipendien und Preise, die die Bandbreite von Küntzels Schaffen verdeutlichen –
• 1993 DAAD-Stipendium für einen Aufenthalt an der Universität San Diego in Kalifornien
• 1998 Atelierstipendium des Landes Niedersachsen zur Realisierung von Sonic Windsocks auf dem Signal Hill St. John’s, im kanadischen Neufundland
• 1998-99 Stipendiat der Akademie Schloss Solitude
• 1999 EMARE- Stipendium für einen Aufenthalt am C3 in Budapest zur Realisierung interaktiver Internetprojekte
•1994-98 folgt dann ein Lehrauftrag an der Lüneburger Fachhochschule im Bereich Sozialpädagogik / visuelle Kommunikation: Klang und Farbe – wo  er unter Anderem das Bauen von Klang- und Geräuscherzeugern unterrichtet und die anschliessende Erstellung von Spielpartituren und Improvisationsformen
• 2001 Beteiligung an einem Künstleraustausch des Centre d’Arts Plastique Albert Chanot, im französischen Clamart
• 2002 Erster Deutscher Klangkunst-Preis des WDR und des Skulpturenmuseums Glaskasten Marl
• 2003 Hedwig-Meyn-Preis, Lüneburg
• 2007 Gastdozentur an der Universität der Künste Berlin
• 2008 Aufenthaltstipendium „quartier21“ in Wien

Ich komme auf Küntzels Stare-Symposium zurück: an den meisten Berlinern  geht der alljähliche Besuch der Stare unbemerkt vorbei. Keiner hat Zeit, in den Himmel zu schauen oder dem stochastisch-symphonischen Massengezwitscher in den Lieblingsbäumen der Stare auf der Museumsinsel zuzuhören. Hält man jedoch einen Moment inne und lässt Auge und Ohr diesen erstaunlichen Lebewesen folgen, erfährt man ein Stück beiläufige Magie, die die Wahrnehmung vollkommen aus dem Zeitgefühl enthebt. Wach und aufmerksam für solche Momente und Beobachtungen zu sein und ihnen dann behutsam einen eigenen Wahrnehmungsraum zu gestalten ist ein Charakteristikum der Arbeit Küntzels.

Nehmen wir zum Besipiel die einsame Birke auf einer Landstrasse in der Nähe von Grimma bei Leipzig. Während einem Aufenthalt an der Kunstschmiede Höfgen hat Küntzel sie entdeckt und kurzerhand in seine Arbeit «Solar Knockers» integriert, einer  solarbetriebenen Klanginstallation, die autark und je unterscheidich nach Sonnenstand zurückhaltend oder  kapriziös eine Reihe von kunstvoll im Astwerk des Baumes verhängenten Weingläsern mit Hubmagnetschaltern bespielt. Niemand wird künftig die kleine Birke unbeachtet links liegen lassen!

In dem erwähnten Symposium « Stare über Berlin » ging es aber auch darum, darzustellen, zu welchen Ergebnissen die Wissenschaft, die Verhaltensforschung, die Kommunikationswissenschaft bei der Untersuchung des Vogelgesangs gekommen ist. Dies wiederum wirft Licht auf eine weitere von Küntzels Eigenschaften, seine Arbeiten werden gründlich, informiert und epistemologisch durchaus kritisch angegangen. Erkenntnisse der Psychoakustik  – also: die Lehre von den auditorischen Wahrnehmungsmechanismen des menschlichen Gehörapparates – spielen ebenso eine Rolle in seinem Werkdesign, wie eine gekonnte Anwendung handwerklicher Fähigkeiten im Bereich der Akustik sowie der elektromechanischen, elektronischen, digitalen und internetbasierten Verarbeitungstechnik. Küntzel pflegt seine Werkzeuge, erweitert ihren Bestand und verfügt somit über eine breite Palette von Audrucksmitteln, die sich von der Konzeptkunst bis hin zu acousmatischer oder algorithmischer Komposition erstreckt. So beispielsweise sein Projekt «Seismophonie», das minimale seismographischen Bewegungen in den Bodenplatten eines architektonischen Fundamentes mißt und aus den Messergebnissen verstärkte elektronische Klänge in Echtzeit generiert entstehen lässt.

Auch soziale und sozialpsychologische Aspekte der Betrachtung fliessen in Küntzels Arbeit ein. Nehmen Sie beispielsweise «Worldcup 2006» auf der Berliner Sonambiente vorgestellt: Möglicherweise die längste Klangcollage der Welt mit insgesamt 64 Mal 120 Minuten Sprachaufnahmen werden hier Fußball-Radioreportagen aller 64 Spiele der Fußball Weltmeisterschaft 2006 in den originalen Ländersprachen überlagert, eine Sound-Wall, die eindrucksvoll das Phänomen des Fussballspiel-Elans hart an der Grenze zur massenpsychologischen Hysterie dokumentiert.

Zuletzt – und hier kann ich als Zeuge aussagen – war eine bestimmendes Merkmal des Berliner Symposiums, die Begeisterung, die Tilman Küntzel selbst für sein Sujet zeigte, eine Begeisterung, die sich bereits in der Planungsphase wellenförmig auf alle Beteiligten – Künstler, Referenten, Organisatoren und somit dann bei der Realisierung natürlich auch auf das Publikum – übertrug und die Veranstaltung zu einem ungewöhnlichen kulturellen Highlight des Jahres 2004 in Berlin werden liess.

Die hier angeführten Eigenschaften nun prägen auch die Arbeit «Blindfolded» eine Annäherung an eine nicht einfache, kulturgeschichtlich belastete Thematik. Küntzel gelingt zugleich und paradoxerweise ein sehr naher und persönlicher wie auch gleichermassen distanzierter und neutraler Zugang.  Seine Figuren, männliche und weibliche, suchen mit verbundenen Augen Orientierung in absoluter Dunkelheit: eine Darstellung, die Inneres (also den Sinneszustand der Suchenden) mit dem Äusseren (also dem halt- und dimensinslosen Umfeld, in dem sie sich mit fast tänzerisch wirkender Grazie bewegen) gleichsetzt. Dies allein ein starker und symbolisch aussagekräftiger Einfall.

Das Bild wird eingefasst von einer auf zwei Kanäle reduzierten achtkanäligen Tonspur aus körperhaften Klängen, die sporadisch und selbst tastend einen fragilen Kontakt zu dem Bild zu suchen scheinen, bevor sie sich wieder in das gegebene klangliche Umfeld der Paradiespforte zurückziehen.

Ein Stück weisses Tuch verbindet als gegenständlicher Vermittler die mediale mit der materiellen Welt – und lässt den Blick und das Ohr hinabtauchen in die Tiefe der Erscheinungen.

Vielen Dank.

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