Angelika Beckmann
Wahrnehmungsräume in der Kunsthalle Baden-Baden 1992
WAHRNEHMUNGSVERKNÜPFUNG
Wo immer wir auch sein mögen, meistens hören wir Geräusche. Beachten wir sie nicht, stören sie uns. Hören wir sie uns an, finden wir sie faszinierend.
John Cage, Die Zukunft der Musik – Credo, 1937/58
Wahrnehmungsräume nennt Tilman Küntzel seine Installation in der Kunsthalle Baden-Baden. Er hat in die beiden Ausstellungsräume ein Labyrinth von Zwischenwänden hineingesetzt, das Räumen und Funktionen eines Wohnungs- oder Hausgrundrisses nachempfunden ist. In seinem „Musterhaus“ gibt es ein Eßzimmer genauso wie Badezimmer, Fernsehecke und Schreibraum. Der zweite Ausstellungssaal weitet sich zu einem Garten oder Hof, nur eine zentral vor der Rückwand des Raumes plazierte Einbauwand grenzt das Szenario ab.
Gegenüber der sauber-sterilen, technisch makellosen Kunsthallenarchitektur schafft Küntzel ein Provisorium, das eine schnelle Übersicht über das Gezeigte ausschließt. Kann man sonst frei seinen Blick durch die Räume schweifen lassen, muß der Besucher sich nun die Exponate „erwandern“. Jeder wird zudem seinen individuellen Weg finden. Auf diese Weise direkt an die Objekte herangeführt, kann er sie abgelöst von anderen Endrücken und auch selbst in „Kojen“ isoliert für sich wahrnehmen. Hierbei wird sowohl Neugier evoziert – was erwartet mich, wenn ich um die Ecke biege? -, als auch eine Konzentration in der stillen, direkten Gegenüberstellung mit dem jeweiligen Objekt ermöglicht, das bisweilen seine eigenen Forderungen an den Besucher stellt.
Grundriss des Ausstellung im „Forum“ in der Kunsthalle Baden-Baden mit der Konzeption der „Wahrnehmungsräume“.
1) Dusche, 2) Schreibraum, 3) Badezimmer,
4) Zentraler Platz, 5) Fernsehecke, 6) Bildergalerie,
7) Phonothek, 8) Eßzimmer, 9) Wandarbeit,
10) Lichtskulptur, 11) Wandarbeit, 12) Wandarbeit,
13) Wandarbeit, 14) Bodenskulptur, 15) Kamera-Monitor Interaktion
Im ersten Moment wirkt alles ganz normal: Die Räume des „Musterhauses“ erfüllen bestimmte Funktionen. Doch dann beginnt die Irritation: dringen nicht leise Geräusche aus dem Rohr der Dusche? Beim genauen Hinhören vernimmt man eine Melodie, die Raimund Roussels Roman Locus Solus (1914) entnommen ist.
Im nahegelegenen Schreibraum steht eine Lampe auf dem Tisch. Wenn man sie einschaltet, bleiben die Lichtverhältnisse unverändert. Statt dessen hört man das Kratzen einer Schreibfeder. – Der Lampenschirm ist ein Lautsprecher!
Im Fernsehraum läuft eine Tagesschau, ein bequemer Sessel lädt zum Verweilen ein. Doch statt der distanziert-distinguierten Berichterstattung von Dagmar Berghoff & Co. dies: Zu den gewohnten und erwarteten Bildern aus fremden Ländern sind keine kommentierenden Texte, sondern Trommelrhythmen und Flötenklänge zu hören. Den Beiträgen über die jeweilige Region sind Tonkonserven der ihr zugehörigen ethnischen Musik unterlegt. Der Besucher muß selbst entscheiden, ob er diese folkloristische Verbrämung komisch oder entlarvend findet. Darüber hinaus stellt sich im Allgemeinen die Frage nach dem Zusammenwirken von Bild und Ton: wie greifen sie ineinander? Welche Mitteilungsart dominiert die andere? Läßt sich eine Ausgewogenheit in der Mitte erzielen? Erst wenn die gewohnte Allianz von optischer und akustischer Wahrnehmung aufgebrochen wird, beginnt die Reflexion über diese eingespielten Mechanismen.
Das Zusammengehen und Vernetztsein der verschiedenen menschlichen Sinneswahrnehmungen beschäftigt Tilman Küntzel besonders: Klänge und Geräusche „am falschen Ort“, aber auch die sichtbaren Auswirkungen von Schallwellen, die für uns – wegen der niedrigen Frequenz – unhörbar sind, lassen uns „unseren Augen und Ohren nicht trauen“. Bei der Arbeit Earth Sound schwebt in bestimmten Abständen wie von Geisterhand bewegt eine (als Plastikball aufgeblasene) Erdkugel – wer dächte da nicht an Charlie Chaplins Großen Diktator! – in die Luft, um nach kurzer Zeit wieder auf einer Säule zu landen. Bewirkt wird das Ganze durch die fünfmal verringerte Bandgeschwindigkeit eines Tonbands mit einem Fragment Dixielandjazz. In vielfacher Verstärkung abgespielt, versetzen die Schwingungen in der Membrane eines Lautsprechers den Ball in Bewegung. So sieht der Betrachter letztlich Töne, die er aus physiologischen Gründen nicht über das Gehör wahrnehmen kann.
Das Auge sucht, das Ohr findet war das Motto einer Arbeit Küntzels (der Interaktiven Taschenlampe, die Töne aufzeichnet, anstatt Licht abzustrahlen). In vielen seiner Arbeiten fordert er den Rollentausch der menschlichen Sinnesorgane geradezu heraus.
Auch haptische Elemente sind bisweilen integriert, wenn etwa mit Hilfe einer einfachen Mechanik ein Löffel unausgesetzt in der (langsam unansehnlich werdenden) Suppe rührt (Das Gute sowie das Boshafte…). Einige Aspekte in der „Musterwohnung“ Küntzels lassen – „Meine Suppe eß´ ich nicht!“ – an unauslöschliche Erinnerungen der Kindheit denken. So auch Werte und Begriffe, die Kindern und Jugendlichen in gewissen Konventionen weitergegeben werden. Wer erinnert sich nicht mit Befremden an die erste Begegnung mit den Wort „Kulturbeutel“ – und doch ist nur das Plastiktäschchen für Kamm und Zahnbürste gemeint. Im Badezimmer hat Küntzel in seine (um die eigene Achse rotierenden) Klingenden Kulturbeutel anderes Kulturgut gepackt. In zwei Endlosschlaufen ertönt ein Fragment Schweizer Volksmusik. Durch die verschiedenen Länge der beiden Bänder kommt es zu immer neuen Vermischungen und Überlagerungen diverser Töne. In gewisser Weise manifestiert sich beim Abspielen eine Klangcollage ohne Ende.
Die roten Walkmen in den kunstgrünen Beuteln (Komplementärkontrast!) sind lediglich Attrappen, die Klänge kommen aus anderen Lautsprechern. Aber der Wahrnehmende läßt sich leicht hinters Licht führen, offensichtlich bereit, immer die einfachste Brücke zwischen Ursache und Wirkung zu schlagen. Kaum glaublich ist auch die Kausalkette, die bei Küntzels Kamera-Monitor Interaktion oft fälschlich hergestellt wird. Im Rahmen des Hamburger Projekts Weltbekannt e.V. wurden offensichtliche Blechimitationen einer Videokamera und eines Fernsehmonitor in öffentlichen Schaukästen plaziert. Eine unabhängig davon geschaltete Lichtschranke löste beim Vorübergehen von Passanten ein rotes Lämpchen an der „Kamera“ aus, so daß die Betroffenen den zwingenden Eindruck hatten, „auf Sendung“ zu sein, auch wenn die Kabel aus rostigem Draht bestanden. In der Kunsthalle ist diese Installation als neuzeitliches Fossil der Mediengeschichte im „Garten“ aufgestellt. Nachdem der Besucher das Verwirrspiel durchschaut hat, wird ihm angesichts dieser Surrogate das „reale“ Blinken der Bewegungsmelder-Anlage in der Kunsthalle nun in seiner Funktion ebenso fragwürdig erscheinen.
Im Hof oder Garten des Küntzelschen „Musterhauses“ entfalten sich die Objekte und Installationen freier und weniger „zweckgebunden“. Zwei Licht-Klang-Skulpturen verwenden die geometrische Grundformen von Kreis und Ellipse. Sie wirken auf den ersten Blick „abstrakt“ und frei von konkreter Funktion, auch wenn man vertraute Alltagsobjekte wiederfindet, so etwa drei Tischtennisbälle in Pulsare und einen Eierschneider, der in die zentrale Öffnung des zweiten Objektes eingepaßt ist. Von hinten wehen Lametta-Fäden gegen die Schneidedrähte und erzeugen einen metallisches Klingen; über Resonanzraum und Lautsprecher verstärkt wird „Körpersound“ ausgestrahlt: die gespannten Metalldrähte des Küchengeräts sind Saiten eines fremdartigen Musikinstrumentes geworden. Eine Schallöffnung im kosmisch-blauen Objekt ist in Form eines frühbyzantinischen Notenzeichens ausgeführt (siehe ebenfalls als Signet auf der CD4). Die Klänge als solche rufen Assoziationen an mechanische sowie vom Luftzug bewegte Glockenspiele hervor. Jeder Körper ist mit Energie aufgeladen, hat seine Vibration und kann in Schwingung versetzt werden. Der deutsche Avantgardefilmer Oskar Fischinger sagte im Gespräch mit John Cage: „Jeder Gegenstand hat eine Seele, und diese Seele kann befreit werden, indem der Gegenstand in Schwingung versetzt wird.“
In der Kargheit der Mittel zeigt sich Küntzels unverbrauchter Blick auf die allgegenwärtigen, oft standardisierten kleinen Gebrauchsobjekte, die von vielen ob ihrer Funktionalität nie bewußt angeschaut werden. Was ist zum Beispiel die „Euroschlaufe“? Es handelt sich um die genormte Aussparung in Plastik oder Pappe, um verpackte Ware auf Bügel in Supermarktregalen anzuhängen. Tilman Küntzel vergrößert solche trivialfunktionalen Formen ins Skulpturale. Eine Haribo-Tüte hämmert er beispielsweise aus massivem Schiffsstahl und läßt wiederum moderne Fossilen entstehen.
Als Lichtskulptur türmen sich billige gestreifte Plastiktaschen übereinander, inwendig von einer flackernden Lichterkette durchzogen. Man sieht diese Taschen allenthalben bei den Strömen der Reisenden aus Osteuropa, muß auf Bahnhöfen die in ihnen verstauten Warenlager umlaufen. Küntzel macht eine fragile, transparente Stelle aus ihnen, in der das Fadenscheinige der angestrebten westlichen Konsumwelt deutlich wird.
Die Klangobjekte werden oft mit genauso einfachen wie wirkungsvollen Kleinteilen von Bastelbedarf in Gang gesetzt. Schalter, Schleifkontakte, Modellbaumotoren, Walkmen, Mikrophone. Die Funktionsweisen seiner wundersam veränderten Objekte in oft ungewöhnlich kombinierter Zusammenstellung verschleiert Küntzel nicht. In schnellen Konstruktionsskizzen wird jeder Kabelverlauf und das ganze technische „Innenleben“ erläutert. Das Geheimnis ist nicht die Herstellung, sondern die Wirkung der auf Interaktion mit dem wahrnehmenden Besucher angelegten Arbeiten.
Entscheidende Anstöße erhielt Tilman Küntzel von Prof. Claus Böhmler (geb. 1939), der sich ebenfalls mit den Querverbindungen zwischen den Wahrnehmungsorganen beschäftigte. Er beschreibt diese Vorgänge unter dem Titel Projekte
Vom Tastbaren…ins Unhörbare
Vom Unsichtbaren…ins Hörbare
Vom Hörbaren…ins Sichtbare
Vom zu Schnellen…ins zu Große
Vom Gekrümmten…ins Durchsichtige
Vom Tastbaren… ins Riech- und Hörbare
Vom unriechbar Schnellen…ins krummsichtig Große
In Böhmlers Skizzen und Vorschlägen, z.B. für eine „Universum Hör-Sprech-Garnitur“ in der Zeichnung Hören und Sprechen – gleichzeitig (1985)schwingt häufig ein ironisch-subversiver Ton mit – zumal die Bedienung des Gerätes auch Sonnenbrillen Sphinx gerecht werden soll?!-, der auch Tilman Küntzel nicht fremd ist. Das Collagieren und Überlagern zum Teil verfremdeter Klang- und Tonkonserven – auch mit Hilfe von Computerprogrammen – stellt eine weitere Übereinstimmung der Interessen von Lehrer und Schüler dar.
Das kreative Potential der Medien-, Technik- und Maschinenwelt ist für Tilman Küntzel genauso ergiebig wie die natürlichen, „vorgefundenen“ menschlichen und kreatürlichen Zeugnisse. Sie sind sogar „vernetzbar“, um in der Computersprache zu bleiben: Hochartifizielle synthetische Klänge gehen Symbiosen, rhythmische und melodische Dialoge oder Multiloge mit den Balzlauten von Auerhähnen und den Laufgeräuschen von Nashörnern ein usw.
Dies alles wäre natürlich ohne den „Übervater“ John Cage nicht möglich, der die Verbindung artifizieller und natürlicher Klänge in seinen Kompositionen schon lange praktiziert.8 Das zieht für Cage konsequenterweise die Gleichwertigkeit von (internationalen) Klängen und (beiläufigen) Geräuschen nach sich.
Im Rahmen dieses Textes kann auf die hochinteressante Geschichte der „Klangkunst“ im 20. Jahrhundert nicht eingegangen werden, die besonders durch die Geräuschtöner („Intonarumori“) des Futuristen Luigi Russolo seit 1913 für die Instrumentierung von Alltagsgeräuschen sensibilisiert wurde.
John Cage und Sigmar Polke sind für Tilman Küntzel vielleicht die wichtigsten Bezugspunkte. Bei dem amerikanischen Komponisten ist es die aleatorische Kompositionsweise, die oft mit Hilfe von Zufallsoperationen durchgeführt wird, die sich aus den Möglichkeiten z.B. des I Ging herleiten. Bei Sigmar Pole ist es die überreiche, schöpferische Phantasie, die sich auch und gerade im Umgang mit Fundstücken und Zitaten kreativ entfaltet und gestalterische Kraft erlangt.
Zur Zeit realisiert Küntzel seine neueste Arbeit, „Schläft ein Lied in allen Dingen…“. Ein auf der Straße gefundenes Gedichtbüchlein „Quellen des Frohsinns“ enthält als Motto die Gedichtzeilen Joseph von Eichendorffs:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
Tilman Küntzel setzt dieses Gedankenbild des romantischen Dichters vom Zauberwort, welches das Leben der Dinge aufschließen kann, wiederum in einen interaktiven Kontext, der spielerische Zufallsmomente einschließt. Zu dem Repro dieser Gedichtzeilen auf einer Tischlerplatte werden ein Melodiechip und ein Geräuschschalter aus dem Bastelbedarf hinzugefügt – konfektionierte Pseudophantasie, die es dem Heimwerker ermöglicht, acht verschiedene Melodien für seine Türklingel bereitzuhalten, die nach dem Zufallsprinzip ertönen. Tilman Küntzel verleibt diese „Bausteine“ unterschiedslos seiner Arbeit ein. Die elektronischen Elemente erlauben dem Besucher eine akustische Suche nach dem „Zauberwort“, sei es durch Klatschen, Sprechen, Singen, etc., auf das die Technik im Inneren reagiert. So wird durch das Agieren des Wahrnehmenden Küntzels Arbeit erst zum Leben erweckt, er vervollständigt sie eigentlich erst durch seine Interventionen.
Tilman Küntzels Objekte brauchen den öffentlichen Raum, den neugierigen aufmerksamen genauso wie den unbeteiligten Passanten, der nur rein zufällig in ein Wahrnehmungserlebnis hineingerät.
Der Künstler Guillaume Bijl hat 1991 einen Galerieraum stilecht als Supermarkt ausgestattet und so ahnungslose Passanten zum Einkaufen angelockt. Sind Funktionen und Ausstattung in fast perfekter Mimikry vorgetäuscht, gelingt die Enttarnung nur wenigen: für Momente werden in der Irration Kunst und Leben zusammengeschweißt.
Am Ende des Beitrages möchte ich auf Raymond Roussel (1877-1933), den französischen Literaten hinweisen, dessen Bedeutung erst den Surrealisten, unter anderem Salvador Dali, aufging. Seine Hauptwerke Impressions d´ Afrique (1910) und Locus Solus (1914) mit ihren überschäumenden, skurrilen, zum Teil obstrusen und beängstigenden Phantasien, deren Materialisierungen durch phantastische technische „Erfindungen“ oft über Seiten minutiös beschrieben werden, haben Küntzel zu Kompositionen und Objekten angeregt. Erfindungen sind im Sinne von Invention und Kreativität aufzufassen. Was sind Erfindungen letztlich anderes, als „Unmögliches“ oder doch nur Gedachtes als „Mögliches“ zu begreifen und umzusetzen?
Der Wahrnehmende sei also angespornt, auch in Tilman Küntzels Objekten und Kompositionen dieses meist für irreal gehaltene „Mögliche“ aufzuspüren.
Angelika Beckmann,
Kunsthalle Baden-Baden, März 1992