Christoph Tannert
Poetische Metaphern in Licht, einleuchtend
Potsdam, eine Stadt, in der die Einheimischen ihr Wohlergehen an Blühplänen orientieren, damit das fröhliche Wachsen in Feld und Flur auf Tulpenfesten und Gartenschauen zelebriert werden kann, steckt in einem großen Rätsel der Bewegungslosigkeit und sucht nach einem Kulturforum. Voller Ungeduld drängen, eilen, schieben tagsüber tausende Touristen – so lange bis sie sich fürchterlich verkeilt haben – durch die Preußischen Schlösser und Gärten. Da das Preußengedenken zwar eine hohe innere Warte, aber in Tourismusfragen nicht alles ist, wurden Fortissimo-Gesten gesucht, um einem innerstädtischen Standort der Alternativkultur, dem Gelände rund um die Schiffbauergasse, ein paar Glanzlichter aufzusetzen. Die Stadt Potsdam wollte einen Anspruch auf Theater, Kunsthalle und Hochkultur formuliert wissen, der sich verknüpfen sollte mit dem Duft der Avantgarde, die überall Normalisierung wittert und einmal entdecktes Terrain für langweilig hält. Also: Nichts leichter als das.
Der Brandenburgische Kunstverein entwarf in Zusammenarbeit mit dem „Waschhaus“ und der „Fabrik“ daraufhin im Jahr 2000 das Projekt „Auf zu den Sternen“, um der ehemaligen Industriebrache im Prozeß ihrer Umgestaltung ein paar Positionslichter aufzusetzen und von hier aus Potsdams zukünftigen kulturellen Blickwinkel zu erschließen. Hier im Ungesicherten, wo zornige Nonkonformisten sich bereits hinter Bar-Tresen und auf Studiobühnen verbarrikadiert hatten, gedachte man, einen Raum zu öffnen, der sich, wie die Vordenker hofften, nicht auf glitzernde Fassaden verengen und den reinen Schein der Ware propagieren würde.
Gestaltungsfreiräume müßten erhalten sowie neue erschlossen werden, meinten die einen, Kunstwerke als quicklebendig Zeichen gebende Agenten des Umdenkens installiert werden, die anderen.
Mit Künstlern wie Thorsten Goldberg, Jan Henderikse, Andreas M. Kaufmann, Mischa Kuball, Tilman Küntzel, Hans Peter Kuhn, Thomas Locher und Jörg Schlinke, die ortsspezifische, den Ort deutende und ihn beleuchtende Entwürfe präsentierten, wurde jedoch nicht nur ein Licht-Projekt in die Tat umgesetzt, sondern wurden auch präzise und an sozialpolitischer Teilhabe interessierte Signale gegeben.
Eine Auseinandersetzung um den Geist des Öffentlichen an diesem Ort wurde eröffnet, und die Kunst glühte nicht nur vor sich hin, sie versuchte vielmehr die Diskussion zu befeuern. Genau einhundert (!) Jahre nachdem die nächtlich illuminierte Pariser Weltausstellung von 1900 als Lichtereignis der klassischen Moderne von sich reden machte, erschloß auch Potsdam neue Horizonte.
Im Zentrum des Projekts: Tilman Küntzels 400 LICHTER FÜR OLBERS‘ PARADOX. UP TO THE STARS – 400 Stangen, am oberen Ende mit Lämpchen bestückt und wie ein Blumenstrauß in einen alten Fabrikschornstein gesteckt, federnd und schwankend im Wind. In den historischen Zusammenhängen spannt sich ein weiter Bogen von einem runden Jahrhundert der Illumination: vom Elektrizitätspalast der Weltausstellung in Paris über Philip Marlowes Los Angeles bis hin zu Albert Speers zweifelhaft gigantischen Lichtdomen. Tilman Küntzel verlängert die Auseinandersetzung mit der Wirkung des Lichts hinein in einen LowFi-Bereich, in dem keine Stilisierung mehr stattfindet und in erster Linie die Poesie und pure Eigenkraft des Lichtobjekts zur Wirkung kommt.
Die Faszination des Mediums Licht liegt augenscheinlich in seinem Wesen selbst: Licht wird in dem Moment zum Medium der Kunst, wenn es als skulpturales Material, als Materie erkannt worden ist, die aufgrund ihrer Körperlosigkeit, ihrer für unsere Augen immaterielle Erscheinung der ideale Träger von Ideen, der ideale Stoff für die Projektion von Vorstellungen ist. Das Nächste ist uns oft das Fernste, und so bemerken wir die Kraft des täglichen Lichts gewöhnlich nur im Moment unerwarteter Grellheit oder in dessen Abwesenheit, in der Dunkelheit.
Tilman Küntzel ist auf dem weiten Feld lichtgeprägter Erfahrungen und konzeptueller Ansätze ein ausgewiesener Spezialist. Zu den feinen Nuancen der Licht-Wirkungen für das Auge, die uns Küntzel erschließt, kommen die Licht-Metaphern: das Licht der Erkenntnis, der Blendung, der Hoffnung. Und Küntzel verschiebt das Experiment der Darstellungweisen sogar noch weiter – bis in den Wissenschaftsbereich hinein. Wie ein gigantisches Hochzeitsbukett wirken die 150 cm langen, in die Schornsteinöffnung geschobenen Stangen aus der Nähe, im Ganzen und von Ferne gesehen markieren sie geradezu eine flammende Sternenstaubwolke.
Das Olberssche Paradoxon beschreibt verschiedene Theorien um die Frage, warum es nachts dunkel wird, wo doch die Strahlen der Sonne theoretisch an jeder Stelle am Himmel auf einen Stern treffen. Demnach müßte der Nachthimmel hell sein.
Mit seiner Intervention gelang Küntzel mit zauberhafter Leichtigkeit das Kunststück, den Himmel anzuzünden und Besucher des Fabrikareals in eine Traumsequenz mit Bodenhaftung zu entführen.
Jedes Projekt Küntzels ist einmalig, authentisch und nicht wiederholbar. Mit 400 LICHTER FÜR OLBERS‘ PARADOX. UP TO THE STARS zeigt der Künstler außerdem prototypisch, wie sich der Graben zwischen Kunst und Wissenschaft überbrücken läßt: die Abstraktionen der Wissenschaft im Einzelnen kennen, sie intelligent mitdenken, sie in die subjektive Anschauungs- und Assoziationswelt übertragen.
Der poetische Ansatz des Künstlers ist vorsätzlich subjektiv, kann gar nicht subjektiv genug sein (die Naturwissenschaften dagegen bemühen sich, alles Subjektive abzustreifen und methodisch abgesicherte Modelle der Wirklichkeit zu liefern, die zeigen, wie diese objektiv beschaffen ist). Weil sich Küntzels Lichtstäbe biegen wie Schilfrohre in leichter Brise und weil sie mobile-artig permanent in Bewegung sind, taugen sie nicht zu Aussagen, wie es um „die Dinge“ wirklich bestellt ist. Dem wissenschaftlichen Diskurs ist dieser schwankende Standpunkt fremd. Er wird beherrscht, und vielleicht ist das der Kern des Künstlerischen, von einem Bewußtsein der Vorläufigkeit und Fehlbarkeit jeder Erkenntnis, das vorsichtig und bescheiden macht.