Frank Schätzlein

Die Fußballreportage als Radiokunst. Zu Tilman Küntzels World Cup`06 Synchronous Recordings

Die Fußballreportage als Radiokunst
Zu Tilman Küntzels World Cup`06 Radio Commentaries in Native Tongues Synchronous Recordings
Akademie der Künste Berlin 2006

Live-Reportagen und besonders Sportreportagen gehören seit der Einführung des Mediums Radio zu den spektakulärsten Programmereignissen mit den höchsten Zuhörerzahlen. Neben dem Hörspiel, dem Feature und der Funkoper bzw. der radiophonen Musik ist die Sportreportage eine der genuinen, medienspezifischen Darstellungs- und Sendeform des Radios. Sie besitzt eine ganz auf das Medium und seine Rezeptionsbedingungen zugeschnittene Dramaturgie, für die verschiedene Faktoren kennzeichnend sind: Live-Prinzip, Konferenzschaltung, Doppelmoderation, ggf. Staffelmoderation, Spontaneität des Sprechens, eine spezifische Sprache und ein hoher Stellenwert der sogenannten Atmo des Aufnahmeortes. So versuchte man bereits bei den frühen Fußballreportagen des deutschen Hörfunks in den Jahren 1925/1926 mit Hilfe von Mikrofonen hinter dem Torraum und im Zuschauerbereich möglichst viel von der Atmo im Stadion einzufangen.

Die Charakteristika der Radio-Fußballreportage wurden in unterschiedlichen Beiträgen zur Radiotheorie immer wieder als die spezifischen Eigenschaften des Mediums beschrieben. Auch nach siebzig Jahren Programmgeschichte sieht sie beispielsweise der Hörspielmacher Andreas Ammer weiterhin im Zentrum des Radios. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Hörspielspreises der Kriegsblinden für das Jahr 1994 fragt er: „Was ist das Radio? Es hat in den über halbhundert Jahren seines Bestehens vor allem zwei Kulturformen entwickelt, für die es wie geschaffen scheint: Damit meine ich zunächst einmal nicht das Hörspiel, nein, ich spreche eher von der Fußball-Live-Reportage oder der Nachrichtenshow und vor allem von der Hitparade, den zweifellos erfolgreichsten Sendeformen. Diesen Umstand gilt es als jemand, der für dieses Medium arbeiten will und es nicht als Wurmfortsatz oder Sponsor einer schriftstellerischen oder kompositorischen Arbeit begreifen will, sorgfältig zu bedenken. Denn die Live-Reportage und die Nachrichtensendung bringen die Schnelligkeit des Mediums auf den Punkt; sie sind die Texte, die im Radio funktionieren.“

Das Fußballreportage lebt von der Spontaneität des Sprechens bzw. der Reporter, von der genauen Beschreibung des Geschehens bei gleichzeitiger sprachlicher ‚Verdichtung’, der Anpassung der Sprechgeschwindigkeit an das Tempo des Spiels bzw. das Bewegungstempo der Sportler, von Wortspielen und -schöpfungen, sprachlicher Verkürzung und Redundanz und vom gezielten Einsatz der Sprechpause (als Mittel der Spannungssteuerung oder um Geräusche bzw. die Atmo im Stadion deutlich hörbar zu machen, z. B. den Torjubel oder die Fangesänge).

Vor allem in der Hochzeit des sogenannten O-Ton-Hörspiels war Fußballreportagen sowie Gesänge und Stimmen vom Fußballplatz immer wieder Gegenstand und Materialpool innovativer Radioproduktionen. Zu den bekanntesten Hörspielen dieser Art gehören Produktionen von Ferdinand Kriwet („Modell Fortuna“, „Ball“, „Radioball“) und Ror Wolf („Cordoba Juni 13.45 Uhr“, „Schwierigkeiten beim Umschalten“, „Der Ball ist rund“ u. a.) aus der Zeit von 1972 bis 1979. Aber auch in den vergangenen fünf Jahren entstanden wieder viele neue Radioarbeiten zum Themenbereich: „Günther Koch revisited – Voll in den Mann“ (BR 2001) von Hans Platzgumer u. a., „Fußgesänge ballrund – Vom Besingen eines anarchischen Spieles“ (SWR 2004) von Johannes Schmidt-Sistermanns, „Geisterspiel“ (BR 2005) von Günther Koch, Helmut Böttiger und Bernhard Jugel und zuletzt „Das langsame Erschlaffen der Kräfte – Ein Fußball-Hörstück in 6 Kapiteln“ (BR 2006) von Jürgen Roth und Ror Wolf sowie „You’ll never walk alone – Europäische Stadiensounds“ (RB/HR/NDR/RBB 2006) von Alfred Behrens und Michael Riessler.

Während sich die Qualität dieser Produktionen in der Regel aus dem künstlerischen, sprachlichen und/oder unterhaltenden Potential der Montage von Originaltonaufnahmen (Radioreporter, Stadionsprecher, Fans und Spieler) oder aus dem Reportagestil eines einzelnen Fußballexperten (hier beispielsweise Günther Koch) speist, hat der Berliner Klangkünstler Tilman Küntzel für seine im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2006 produzierten „World Cup`06 Radio Commentaries in Native Tongues Synchronous Recordings“ ein deutlich anderes Setting gewählt, dass auf Grundlage der Fußballreportagen neue Wahrnehmungserlebnisse ermöglicht. Im Mittelpunkt seiner Produktion steht nicht eine einzelne Reporterpersönlichkeit, eine Mannschaft oder Fangruppierung, sondern der spezifische Sound der WM-Fußballreportage als synchrones internationales Medienereignis.

Antje Vowinckel beschreibt in ihrer Untersuchung zu „Collagen im Hörspiel“ (Würzburg 1995) zehn unterschiedliche Formen der Collage. Will man Küntzels Produktion hier einordnen, wird deutlich, wie viele Bezugpunkte diese Arbeit bietet: als Originalton-Collage aus öffentlichen Äußerungen sowie aus Umweltklängen, als Live-Collage und schließlich als zwei- bzw. mehrsprachige Sprachcollage. Die strenge Trennung der beiden Kanäle (Reportage/Land 1: linker Kanal – Reportage/Land 2: rechter Kanal) verhindert das vollständige Eintauchen in die Perspektive nur einer Mannschaft/eines Landes und erzeugt gleichzeitig eine Rezeptionshaltung, die für die Wahrnehmung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Fußball- und Sprachkultur der beteiligten Nationen sensibilisiert. Als subjektiv ausgewählte Highlights seien genannt: 1.) das Überlagern, Verschieben, Beschleunigen und Verlangsamen des Sprachflusses beim Spiel Japan – Brasilien, 2.) die Gegensätze zwischen den südeuropäischen Gesängen und dem beschreibenden Kommentar aus Osteuropa beim Spiel Spanien – Ukraine, 3.) die akustischen Fragmente des Torjubels während der Begegnung Ghana – USA, die Assoziationen an die Frühzeit der Radiotechnik wecken können und 4.) die von Gesang und einer überwältigenden Atmo gefüllten Sprachpausen, wenn ein Tor gefallen ist und die Reporter auf beiden Seiten für kurze Zeit verstummen, um den Sound des Stadions hörbar zu machen (beispielsweise Deutschland – Schweden in der 3. Minute).

Und schließlich die Installation: Der Blick auf und das Hören von Küntzels Klangwand in der Akademie der Künste macht die räumliche, mediale und sinnliche Dimension des Ereignisses Fußballweltmeisterschaft in beeindruckender Weise deutlich. Der Fußball zwischen den Kopfhörerbügeln erscheint einerseits als Erdball, andererseits aber vor allem als ein zur Kugel geformtes Konzentrat der Stimmen und Stimmungen von Spielern, Kommentatoren und Zuschauern im Stadion. Zur akustischen Wahrnehmung des Medienereignisses tritt die visualisierte Interpretation des Hörkunst-Projekts und – wenn der Ausstellungsbesucher nahe genug ‚ am Ball’ ist – der Geruch der Fußbälle als dritte Komponente der Rezeption. Doch auch unabhängig vom Fortbestand der Installation bieten die „World Cup`06 Radio Commentaries in Native Tongues Synchronous Recordings“ ein in Form und Umfang einzigartiges weltumspannendes ‚Media Soundscape’, das die Fußballweltmeisterschaft 2006 nicht nur überdauern, sondern als Medienereignis archivieren wird.

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