Helga de la Motte-Haber

Lights and Sounds by Tilman Küntzel in: Jahrbuch Musikpsychologie, Laaber 2005

Helga de la Motte-Haber
Lights and Sounds by Tilman Küntzel
in: Jahrbuch Musikpsychologie, Laaber 2005

Die alltägliche Wahrnehmung ist multimodal. Informationen aus verschiedenen Sinnesorganen sind zu einem einheitlichen Vorgang verschmolzen. Dabei ist einem weder bewußt, wie die Integration geschieht, noch daß die Arbeitsweise der Sinnesorgane nicht gleichsinnig ist. Das Ohr reagiert mit 2 msec. erheblich schneller auf Umweltreize als das Auge, das 17 msec. braucht. Die Integration der Informationen spiegelt oft nicht ihre sensorische Basis, sondern eine Form der Logik, die wir im Laufe des Lebens gelernt haben. Wir sehen erst den Hammer fallen und hören dann den Ton. Wissen um Ursache und Wirkung erklärt auch jene Falschnehmungen, bei denen akustische Informationen räumlich verhoben werden (Bauchrednereffekt) oder zeitlich nacheilende Schallereignisse bei Musikvideos als gleichzeitig mit einem visuellen Ereignis erlebt werden. Diese Logik des Gewohnten läßt zuweilen glauben, das Auge dominiere über das Ohr. Dem widerspricht, daß in den Zeiten, als die unimodale Wahrnehmung zur ästhetischen Norm erhoben worden war, im Wettstreit der Künste durchaus nicht immer das Visuelle dem Auditiven überlegen erschien.

Ein Großteil der Kunst ist heute audiovisuell. Da sich gleichzeitig immer mehr Künstler mit dem Wahrnehmungsprozeß auseinandersetzen, steht auch die Frage der unterschiedlichen Informationsverarbeitung der Sinnesorgane zur Diskussion. Sie spielt in den Arbeiten des 1959 geborenen Klangkünstlers Tilman Küntzel eine wichtige Rolle. Die Routinen, mit denen wir sinnliche Daten interpretieren, sollen irritiert oder durchbrochen werden, um Wahrnehmung dem Erleben zugänglich zu machen. Es gehörte schon immer zum Wesen von Kunst, ästhetisches Vergnügen aus der Differenz zwischen Artifiziellem und Gewohntem entstehen zu lassen. Jedoch ist in der modernen Kunst diese Differenz sehr bedeutsam geworden.

Typisch für Tilman Küntzels Arbeiten sind Kombinationen von Lichtobjekten und Schallereignissen: Lights and Sounds, blinkende Objekte, die gleichzeitig Schall generieren. Darüber hinaus hat er manchmal Klänge und Bilder „falsch montiert“ (Tagesschau mit Trommelwirbel und Flötentönen). Seine Licht-Klanganalogie (1988) wirkt fast wie eine experimentelle Anordnung. Ein Lautsprecher, in den Schirm einer Schreibtischlampe gefaßt, macht hörbar, was wir als konstantes Licht nicht sehen können, nämlich daß der Strom mit einer Frequenz von 50 Hz in den elektrischen Leitungen pulsiert: ein vibrierendes tiefes Brummen wird hörbar. Küntzel hat umgekehrt Töne auch sichtbar gemacht, indem durch den Schalldruck Bewegungen erzeugt werden (Earth Sound 1989). Eines seiner zentralen Themen ist jedoch die Analogisierung von Klang und Licht, wobei deren Parallelschaltung jedoch zu neuartigen Erfahrungen führt. Dabei stehen nicht immer die mentalen Reaktionen im Vordergrund; sie werden jedoch zusätzlich provoziert.

Voll Magie zu sein schien die Neophone Rauminszenierung (2001) mit ihrem rhythmischen Wechselspiel von Licht und Klang. Kunstvoll angeordnete Neonröhren an der Decke, teils hängend,  sowie auf dem Fußboden liegend leuchteten alle zwei bis drei Sekunden für 10 Sekunden auf. Die Röhren auf dem Fußboden flackerten nur phasenweise im Abstand von zwei Minuten. Der dunkle Raum erhellte sich in variablen Gestalten. Er gab immer neue Perspektiven frei. Das bei Leuchtstoffröhren übliche akustische Startsignal war zudem verstärkt und gut hörbar; einige Lautsprecher lagen in Glasbehältern, wodurch diese Signale ihren Klangcharakter änderten. Akustisch ergab sich ein komplexes zeitliches Geflecht, das trotz der Parallelschaltung nicht mit den rhythmisch durch das Licht geschaffenen wechselnden optischen Eindrücken synchronisiert werden konnte. Die Raumwahrnehmung wurde zu einem zeitlich komplexen Prozeß. Alle Raumwahrnehmung integriert Zeit  allein schon durch die Augenbewegungen; eine Raumzeit nehmen wir dennoch nur selten bewußt wahr. Faszinierend an Küntzels Installation war jedoch, daß die analoge Situation von Licht und Klang sich in ein kontrapunktisch rhythmisches Geschehen gleichberechtigter visueller und akustischer Ereignisse verkehrte. Das Licht „explodierte“ zuweilen als Schall. Weil das Ohr Informationen schneller auffassen kann als das Auge, schien aber auch der Klang das Licht zu verursachen, obwohl er durch die Verstärkung und Trägheit der Lautsprecher verzögert gegenüber dem Lichtsignal und zusätzlich örtlich verschoben war. Zu zeigen, wie im einzelnen das Wechselspiel von Auge und Ohr vonstatten ging, war nicht der Sinn dieser Installation, die ästhetisches Vergnügen durch Überraschung bereiten wollte. Damit jedoch die Gleichberechtigung der Sinnesorgane erfahrbar war, wurde eine ursprüngliche menschliche Fähigkeit freigelegt. Wahrscheinlich sind dazu künstlerische Situationen besonders geeignet, weil sie ohnehin geschaffen werden, um eine andere als die gewohnte Sicht auf die Welt zu eröffnen.
H.dlM

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