Martin Henatsch
Tilman Küntzel im Wewerka Pavillon Münster 2001
Wellenbrecher am Münsteraner Aasee
Es ist die unabdingbare Voraussetzung für alle Ausstellungen im Wewerka Pavillon: die konkrete Bezugnahme auf den Ort in seiner formalen wie inhaltlichen Aufladung und die daraus resultierende Synthese von Ortsbezogenheit und künstlerischer Handschrift. Die im Wewerka Pavillon präsentierten skulpturalen Inszenierungen, Installationen, Projektionen können der eigenwilligen Kunstvitrine inmitten des zentral gelegenen Aaseeparks von Münster – halb autonome Skulptur, halb funktionaler Ausstellungsraum – nur standhalten, wenn sie auf die schwierigen, aber einzigartigen Bedingungen dieser gläsernen Galerie im öffentlichen Raum präzise eingehen.
Tilman Küntzel hat sich dieser Herausforderung gestellt und ist dem Pavillon von Stefan Wewerka mit seiner audiovisuellen Installation BREAKING THE WAVES gleichgewichtig entgegengetreten. Seine Antwort geht zunächst von den winterlich frostigen Temperaturen des Ausstellungszeitraums Dezember 2001 bis Januar 2002 aus. Das genaue Reagieren auf die ortsspezifischen Bedingungen dieses Ausstellungsortes bedeutet angesichts dieses nur durch nicht isolierte Glasscheiben geschützten Quasi-Außenraums auch Aufnahme der jahreszeitlichen Umstände. Hierzu gehört die Kälte ebenso wie das von Weihnachtlichkeit geprägte Lebensgefühl Münsters während der letzen Wochen des Jahres. Und natürlich ist der Pavillon am Aasee auch – gezielt oder im zufälligen Vorbeigehen – bevorzugtes Ausflugsziel derjenigen, die sich an den Festtagen mit einem kleinen Spaziergang durch den Stadtpark ein wenig Bewegung verschaffen wollen. Hier gilt es künstlerisch anzuknüpfen.
Der weihnachtlich oder nur winterlich gestimmte Besucher des Pavillons sah sich nun mit einem skulpturalen Ensemble konfrontiert, das man – abstraktionsgeschult – sehr schnell als eine auf das Wesentliche reduzierte Eislandschaft interpretieren kann. Schon das Einladungsmotiv, auf dem ein Ausschnitt aus Caspar David Friedrichs berühmtem Eismeer-Bild (1824) an das bildungsbürgerliche Grundwissen in Kunstgeschichte appelliert, provoziert eine solche Deutung. Doch allein dessen Umsetzung in eine materialästhetisch geprägte skulpturale Sprache, dies wäre zu wenig, und ist zudem schon mehrfach – von Joachim Bandau bis zu Wolf Vostell – abgehandelt worden. Zwar prägen Tilman Küntzels Arbeit immer auch deutlich visuelle Züge, doch im Mittelpunkt seines künstlerischen Werkes steht der Klang. Die skulpturalen Komponenten sind für Küntzel immer „nur“ Appetitanreger, kommentierende mit oftmals ironischem Unterton versehene Ergänzungen der abstrakten Klänge. Und zugleich bergen sie Möglichkeiten der Distanznahme vor dem Übergewicht der von ihm ausgelösten Klangwelt.
Das persiflierende Verhältnis zwischen Klang und Objekt ist bei Küntzel schon in seinen frühen Arbeiten angelegt, z. B. beim KLINGENDEN KULTURBEUTEL aus dem Jahr 1991: Auf zwei flachen Podesten drehen sich je ein giftgrüner Kulturbeutel. Aus ihnen ertönt per Endlosschleife ein bei längerem Aufenthalt zunehmend penetrant wirkender Ausschnitt Schweizer Tanzmusik. Vergleichbar die Relation zwischen skulpturalen und klanglichen Anteilen auch im Wewerka Pavillon: auf der einen Seite unüberhörbar eine Geräuschkulisse, ein musikalisches ready made, das in direkter Kopplung mit vorgefundenen Faktoren entsteht; auf der anderen Seite Inkunabeln unseres Kulturverständnisses, die in respektloser Weise der Beschallung Küntzels ausgesetzt sind.
Acht Sensoren registrieren die Lichtimpulse der Leuchtstoffröhren im Dach. Diese Lichtwellen sind Resultat des Lichtspiels von Walter Gierst, den Stefan Wewerka für die Lichtgestaltung im Dach seines 1987 auf der documenta 8 präsentierten Pavillons gewonnen hatte. Es handelt sich um eine aus heutiger Sicht geradezu simpel erscheinende, mit einem Zufallsgenerator gekoppelte Steuermechanik, die den Lichtfluß durch die Leuchtstoffröhren im transparenten Kunststoffdach reguliert. Obwohl das Lichtspiel in seinem eigenen künstlerischen Anteil an der Skulptur Wewerka Pavillon lange Zeit kaum beachtet wurde, hat es doch sofort das Interesse des mit Licht als Ausgangsmaterial arbeitenden Künstlers Tilman Küntzel hervorgerufen.
So bilden die „vorgefundenen“ Lichtimpulse die Grundlage für den klanglichen Transformationsprozeß, mit dem Tilman Küntzel dem Wewerka Pavillon via Klanggeneratoren zu Leibe rückt. Das Gegebene, das Vorgefundene bildet den Ausgangspunkt für seine klangliche Intervention, Alltag und Zufall sind wichtige Bausteine von Küntzels Kompositionen. Damit bewegt er sich, ebenso wie beispielsweise Rolf Julius, der 1997 ebenfalls Gast im Wewerka Pavillon war, in dem breiten Fahrwasser einer schon fast als klassisch zu bezeichnenden modernen Klangkunst, deren Urvater mit seiner berühmt gewordenen Definition von Musik als organisierter Zeitsequenz John Cage ist. Vergleichbar mit Julius verzichtet Tilman Küntzel auf komplizierte oder gar computergesteuerte High-Tech-Elektronik. Er arbeitet ausschließlich mit beinahe archaisch wirkender Elektrik, die aus einfachen Relaisschaltungen, Mikrophonen und Verstärkern besteht. Deren voraussehbare Störungen und Nebeneffekte lassen zwar jedem High-Fidelity-Fan sich die Ohren zuhalten, für Küntzel sind sie jedoch unabdingbare Bestandteile einer mit Zufälligkeiten agierenden, dennoch aber klaren Strukturen unterliegenden künstlerischen Sprache.
Im Wewerka Pavillon sind die einfachen Generatoren verantwortlich für eine Geräuschkulisse, die zwischen süßlichem Vogelgezwitscher und hartem Alarmsirenenklang changiert. Abhängig von der durch die Sensoren gemessenen, momentanen Lichtstärke wird die Helligkeit in einen Klang übersetzt, der direkt unter der jeweiligen Meßstelle ertönt. Hierfür hat Küntzel jedem Sensor einen schwarzen Außenlautsprecher zugewiesen, deren schwarze Trichter er direkt unter den Meßgeräten in die weiße Schollenlandschaft eingefügt hat. Die aus diesen Megaphonen erklingende Geräuschkulisse spiegelt die aleatorische Rhythmik der in ungleichmäßigen Wellen durch das Dach strömenden Lichtimpulse. Abhängig von der Lichtintensität der aufflackernden Leuchtstoffröhren ändern sich auch die Frequenzbereiche: vom anheimelnd sonor lockenden Surren bis zum aufschreckend schrillen Sirenengeheul. Wie für Küntzels gesamtes Werk charakteristisch, bildet die auditive Umsetzung visueller Phänomene – hier rhythmischer Lichtimpulse – in Klangereignisse das Rückgrat der audiovisuellen Installation.
Doch mit der Wahrnehmung der kontrastreich zwischen den weißen Styroporplatten aufgestellten schwarzen Lautsprecher sind wir erneut bei dem skulptural-visuellen Elementen der Installation. Denn Küntzels Arbeit gibt sich eben nicht allein mit der selbstreferentiellen Untersuchung akustischer und visueller Phänomene zufrieden. Sie zielt auf das Spannungsverhältnis zwischen den erzählerischen Momenten der skulpturalen Anordnung und der Licht-Klangkoppelung des auf das Vorgefundene reagierenden Technikapparates. So beißend das Verhältnis der schnöden Styroporästhetik zur romantischen Utopiesehnsucht des zitierten Caspar David Friedrich, so scharf ist auch der Kontrast zwischen der geschaffenen Klangkulisse und dem winterlichen Stimmungsamalgam des Aasee-Ambientes. Und hier kommt auch der Titel zum Tragen: BREAKING THE WAVES hat Küntzel seine Arbeit genannt. Natürlich sind die aufgetürmten Eisschollen in Caspar David Friedrichs Gemälde Ergebnis von Wellenbewegungen, die das sich langsam aufbauende Eis immer wieder brechen und die dabei entstehenden einzelne Eisschollen zu einem mächtigen Gefüge zusammenschieben.
Doch neben fast naturalistisch anmutenden Anklängen oder dem augenzwinkernden Vergleich der in Friedrichs Malerei dargestellten Erhabenheit polarer Naturmacht mit der potentiellen Eislaufidylle auf dem Aasee sollte der Betrachter sich vor allem – wenn möglich erst mit Einsatz der Dämmerung, also bei Dunkelheit – zur eingehenden Betrachtung des rhythmischen Lichtspiel anregen lassen. Dieses entfacht Küntzel durch das schattenwerfende Aufrichten der Styroporplatten. An ihnen brechen sich nun erneut Wellen, optischer wie inhaltlicher Art. Fast wie bei einer Filmprojektion huschen die Lichtbilder über die aufgekanteten Platten und scheinen sie zugleich in Bewegung zu versetzen: in unregelmäßigem „da capo“, flackernd, dissonant und doch in harmonischem Einklang mit den Lichtwellen aus dem Dach, also in ortsbezogener Abstimmung auf den Wewerka Pavillon. Eine perfekte visuelle Entsprechung zu dem vom Künstler geschaffenen Klangraum, voller – auch ironischer – Brechungen. Denn nicht zuletzt bricht sich hierin auch jenes adventliche Sentiment, dem man zu dieser Zeit gerade in der Stadt Münster angesichts überbordender Weihnachtsmärkte allerorts ausgesetzt ist. Küntzels BREAKING THE WAVES ist neben aller räumlichen, akustischen und visuellen Finesse zugleich ein wohltuender Unruheherd während der Kerzenschein-getränkten Festtage: somit eine ideale Fortsetzung der Tradition weihnachtlicher Interventionen im Wewerka Pavillon.
PDF (Martin_Henatsch_Wellenbrecher_Aasee, 147 kB)