Sabine Sanio

Tilman Küntzels Hommage à Can für die Ausstellung Halleluhwah – hommage à Can

Kunst und Kultur zwischen Kalter Krieg und Finanzkrise
In Tilman Küntzels Videoinstallation Zu den Sternen – terrestrische Invasion geht es um eine spezifische Haltung zum Weltgeschehen, wie sie in der progressiven Popmusik der 60er und 70er Jahre zum Ausdruck kam. In seiner Hommage an die Musik der Kölner Band Can zeigt Küntzel uns eine moderne, gewissermaßen digitalisierte Form psychedelischer Verfremdung von Bild und Ton, die nur indirekt an den Kölner Krautrock erinnert. Denn während es den Musikern damals um die subjektive Intensität musikalischen Erlebens ging, zielt Küntzel in seiner aktuellen Hommage auf eine Reflexion der damaligen politischen Verhältnisse.

Mit der Band Can assoziiert man eine Musik, die auf Bewußtseinserweiterung angelegt war. Heute, im Rückblick sieht Küntzel in dieser Form von Musik vor allem eine Reaktion auf die erstarrten politischen Verhältnisse des Kalten Krieges: Damals ermöglichte diese psychedelische Musik vielen jungen Leuten ein intensives Erleben ihrer Gefühle, Empfindungen und Phantasien. Sie tauchten mit dieser Musik in fiktive, irreale Wirklichkeiten ein, die man sonst nur im Drogenrausch erleben konnte. Den damaligen Hype um die Bewußtseinserweiterung begreift Küntzel als Ausdruck eines Fluchtimpulses, der auf die herrschende atomare Bedrohung reagierte.

Statt sich auf den Vietnamkriegs oder die Studentenrevolte zu beziehen, die im Westen wichtige Impulse für Wirklichkeitsflucht und Drogenerfahrung bildeten, greift Küntzels Installation mit der Raumfahrt ein Thema auf, das für den Kalten Krieg fast noch größeren Symbolwert besaß: Nachdem den Sowjets mit den ersten Sputniks die Erdumrundung und der Einstieg in die bemannte Raumfahrt geglückt war, entstand zwischen den beiden Großmächten ein Wettstreit um die Vormacht im Weltraum, der auch nach der ersten amerikanischen Mondlandung im Jahr 1969 noch längst nicht entschieden war. Küntzels Bildmaterial stammt aus dem Dokumentarfilm „Fliegerkosmonauten“ von Marian Kiss. In einer Reihe von Interviews befragte Kiss ehemalige Kosmonauten, die alle am Interkosmos-Programm teilgenommen hatten. Im Zuge dieser 1976 gestarteten Propagandaaktion hatte man Kosmonauten aus zehn sozialistischen Bruderstaaten an der sowjetischen Raumfahrt beteiligt. Die Interviews mit den gealterten Raumfahrern, die in ihrem heutigen Alltag sowie an früheren Arbeitsstätten gezeigt werden, sind kombiniert mit historischen, dokumentarischen Bildern.

Für die Verzerrung, Verpixelung und Verfremdung der Bilder hat Küntzel die digitale Übertragung im terrestrischen TV-Empfang manipuliert und modifiziert – „terrestrische Invasion“, der Untertitel der Installation, spielt darauf an. Das Ausgangsmaterial wurde konsequent verknappt, insbesondere sind alle eher narrative Passagen herausgeschnitten, um die Rhythmik der Bildfolgen zu verdichten. Erhalten geblieben ist der Atem des Films, der sich einer speziellen Technik des Innehaltens in kurzen Standbildern verdankt. Den Originalton hat Küntzel durch elektronische Musik ersetzt, diese ist ebenfalls durch Manipulation von Abspielgeräten entstanden, ihr Rhythmus folgt dem der Bilder, so daß Bild und Ton der Installation eine Einheit bilden. All diese Eingriffe verleihen Küntzels Video einen Charakter extremer Verfremdung, doch vor allem besticht es durch Stilisierung und durch eine ausgeprägte Künstlichkeit – das gezeigte Geschehen rückt dadurch in fast traumartige Distanz.

Küntzels Hommage an Can provoziert die Frage nach den Unterschieden zwischen der Welt damals und der heute. Offensichtlich hat sich der Charakter der Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen, grundlegend gewandelt, damals war die vom Kapitalismus wie vom Kommunismus propagierte Idee einer befreiten Menschheit in eine alptraumartige Bedrohung durch die atomare Aufrüstung umgeschlagen, heute hingegen sehen wir uns einer Dynamik ausgesetzt, bei der die Sehnsucht nach ungehemmter Befriedigung der Wünsche des Einzelnen in eine Finanz- und Bankenkrise umgeschlagen ist, die immer weitere Kreise zieht. Inzwischen sind nicht nur ganze Staaten bedroht, es gibt auch immer mehr Stimmen, die das kapitalistische System insgesamt in Frage stellen.

Das führt schließlich zu der grundsätzlichen Frage, wie wir heute auf solche fundamentalen Bedrohungen reagieren sollen. Tilman Küntzel läßt es offen, ob seine Videoinstallation als Kommentar zu dieser Frage angesehen werden kann. Doch Zu den Sternen – terrestrische Invasion ist nicht nur eine Digitalversion von den psychodelischen Effekten der Kölner Musiker, es stellt zugleich eine Beziehung zur damaligen politischen Realität her und rückt auf diese Weise das Ästhetische selbst in eine politische Perspektive. Schon deshalb ist die Videoinstallation Zu den Sternen – terrestrische Invasion mehr als nur ein Kommentar zur Musik von Can, Küntzel formuliert darin die Überzeugung, daß man Kunst stets und immer aufs Neue als gesellschaftliches und politisches Phänomen begreifen muß.

Halleluhwah – hommage à Can kuratiert von Christoph Tannert
Galerie AbtArt Stuttgart und Künstlerhaus Bethanien 2011

PDF (Sabine Sanio Kunst und Kultur zwischen Kalter Krieg und Finanzkrise, 188 kB)