Martin Maria Schwarz
Tilman Küntzel World cup 2006 – Radio commentaries in native tongues
Eine Rezension in der Sendereihe Mikado,
Freitag 13.04.2007 Hessischer Rundfunk 2
O-Ton Track 4 Brasilien – Australien
Was ist das, was hier als wildes Geschrei toll gewordener Männer an unser Ohr dringt? Noch dazu in einander überlagernden Stimmen? Noch dazu in fremden Sprachen? Nun, es ist nicht anderes als das weltumspannende Totaltheater Fußball, aufgeführt in seiner eindringlichsten, aber auch extremsten Form – der Fußball-Livereportage. Dass in der Improvisationskunst der Reporter, der spontanen Reaktion auf das Geschehen im Stadion, sowohl dramatisches, als auch episches und lyrisches Potenzial steckt, haben etliche Hörspielautoren in der Vergangenheit entdeckt und schlüssig herausgearbeitet, allen voran natürlich der Schriftsteller Ror Wolf. Aber Tilman Küntzels collagierender Umgang mit dem Material der Originalton-Reportage ist im besten Wortsinne bislang unerhört.
O-Ton Track 9 Brasilien – Japan
Unerhört, weil er zusammenführt, was unter normalen Bedingungen so nie zu erleben ist. Nämlich die tonale Verflechtung zweier unterschiedlicher Perspektiven auf ein und dieselbe Spielszene. Dafür hat Küntzel alle 64 Spiele der Fußball-WM 2006 im Originalton der Reporter der beteiligten Länder aufgezeichnet, fragmentiert und ausgewählte Stücke, meist Torszenen, auf zwei Kanälen mit einander in einen Ferndialog gesetzt. Das bietet eine Fülle an Reizen, wenn man nur bei der simplen philosophischen Erkenntnis beginnt, dass es die Wahrheit über ein und dasselbe Geschehen nicht gibt, und, im Fußball zumal, die Freude des einen immer der Schmerz des anderen ist. Drastisch erlebbar z.B.beim Achtelfinalspiel Deutschland gegen Schweden:
O-Ton Track 14 Deutschland – Schweden
Küntzel kommentiert nichts, er schaltet Szene auf Szene hintereinander, stellt nur aus und lässt seinem Hörer Freiraum für eigene Gedanken. Vorausgesetzt, er lässt sich darauf ein, durch die Klangwand der vielsprachigen Kakophonie hindurch zu hören. Wenn es aber gelingt, sich rein auf Sprachmelodie, Sprechintensität und – schnelligkeit zu konzentrieren, lassen sich treffliche Studien anstellen über Temperamente und Mentalitäten im Umgang mit dem Medium Radio im allgemeinen und natürlich mit Fußball im besonderen. Wie nüchtern und monoton beispielsweise klingt doch die ukrainische Form der Fußballreportage
O-Ton Track 2 Ukraine – Spanien
wenn man sie im Kontrast hört zur losgelösten, melodischen Wucht der spanischen Berichterstattung.
O-Ton Track 3 Ukraine – Spanien
Aber dieses einmalige Klangprojekt Küntzels wirft auch unfreiwillig Fragen auf, z.B., ob die Emotionen der Reporter noch authentisch sind? Reporterikonen wie Herbert Zimmermann und Kurt Brumme früher oder Manfred Breuckmann heute ist ja auch immer das Leiden am Fußball anzuhören, entweder wenn schlechter Sport geboten wird oder, auf der Ebene internationaler Spiele, wenn Tore gegen die „eigene“ Mannschaft fallen. Die Reportage des WM-Finales Frankreich gegen Italien macht stutzig, wenn man sich ausschließlich die französischen Reporter aufs Ohr legt. Das ist durch die Zwei-Kanal-Ton-Aufnahme möglich. Denn, ist da noch ein Unterschied spürbar, zwischen der emotionalen Erregung beim Tor für die eigene Mannschaft, also beim 1:0 Fürhungstreffer der Franzosen?