Sabine Sanio

über Tilman Küntzel in: Ästhetische Erfahrung als Wahrnehmungsübung? Kapitel VII "Audiovisuelle Konzepte"

Sabine Sanio
Ästhetische Erfahrung als Wahrnehmungsübung?
aus Kapitel VII „Audiovisuelle Konzepte“
in: Musik-Konzepte
Sonderband Klangkunst
München 2008

(…) Wie Julius und Kubisch ist auch Tilman Küntzel eine Doppelbegabung als Musiker und Bildender Künstler. Er forciert in seinen Installationen das Verhältnis von Bild und Klang, indem er beide Dimensionen ungewöhnlich eng aufeinander bezieht. Die Irritation, ja, Überforderung unserer Sinne, die er damit provoziert, bewirkt eine Sensibilisierung für Möglichkeiten und Grenzen der Interaktion und Wechselwirkung zwischen Sehen und Hören. Fluxusstrategien aufgreifend integriert Küntzel alltäglichste Elemente in den Kunstlontext und führt die rein formale Herangehensweise mit seinen bewusst einfachen Materialien gerdezu ad absurdum. Küntzel operiert häufig mit der strikten Gleichschaltung von Klang und Licht. Dafür werden visuelle und akustische Signale direkt miteinander verkoppelt – trotz der Parallelschaltung erlebt der Rezipient akustische und visuelle Prozesse völlig unabhängig voneinander. In der Installation „Ein Treppenhaus für die Kunst““ hat er zwei über Eck liegende Wände mit einer Art Deckenfries versehen. Hinter strukturiertem Glas bilden einmal 15 und einmal 16 identische Objekte ein horizontales Band. Darunter sind in einer Höhe von bis zu knapp zwei Metern fast 100 kleine reliefartig hervortretende Halbkugeln unregelmäßig über die beiden Wände verteilt.

Beim Nähertreten erkennt man hinter dem Glas Weihnachtssterne, wie sie in der Vorweihnachtszeit in vielen Fenstern leuchten. Über wärmeempfindliche Bimetalle, die wie eine Art „at random“-Steuerung funktionieren, wird das Aufleuchten und Verlöschen der Glühbirnen gesteuert. Neben den Glühbirnen hat Küntzel an die Bimetalle Piezos angeschlossen, die in den Halbkugeln an der Wand installiert sind: Parallel zu den aufleuchtenden und verlöschenden Lichtern ertönt ein ebenso unvorhersehbarer Rhythmus einsetzender und verstummender Piezoklänge. Auf Knopfdruck leuchten alle Sterne auf, doch bald erlöschen die ersten Glühbirnen für einen Moment. Nach kurzer Zeit zerfällt die wuchtige „Totale“ von Licht und Klang in ein unregelmäßiges Muster von bunten Lichtern und Geräuschen. Die Rummelplatzatmosphäre der flackernden Lichter, schnarrenden, surrenden und fiependen Piezos steht in deutlichem Kontrast zur kontemplativen Kunstrezeption – ein verspielt-ironischer Kommentar zur bis heute letztlich doch elitären Situation der Kunst und auch der Klangkunst in Galerien und Museen.

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