Stefan Fricke
zu dem Werk von Tilman Küntzel
Die Entwicklung der avancierten Künste ließe sich erzählen als eine fortlaufende Geschichte der artistisch nobilitierten Dinge des Alltags. Wann und womit auch immer diese Geschichte beginnen mag, zu ihrer Fabel gehören das Tapetenstückchen im Tafelbild, das zubetonierte Automobil, der leere Flaschentrockner, das Fett und die Ecke, das partiturgeregelte Heulen der Sirenen, die auf Schallplatte fixierten Traktorenmotoren und quietschenden Stühle, das gerahmte Brandloch, alles von und mit der Eisenbahn, das labyrinthisierte Einfamilienhaus, der skulpturale Nagel, die mikrophonierte Neonröhre, die abgerüstete Kriegsrakete…
Kein Ding des Alltags ist vor den Künsten sicher, selbst das Arsenal lebensnegierender Gegenstände nicht. Die Gesellschaftsprodukte, vermeintlich einem besseren Leben zugedacht, das oft genug dann ja in ein schlechteres umschlägt, sind stets auch Kunst-Materialien. Und sie sind das nicht mehr nur potentiell, sondern tatsächlich. Das ist gut so. Denn gerade die künstlerisch transformierten Banalitäten sind es, die uns vor dem banalen, unreflektierten, bisweilen gar gefährlichen Umgang mit denselben zu schützen vermögen, zumindest aber darauf aufmerksam machen. Ohne die Analysen des Alltags durch die Künste, ohne ihr Spiel mit den meist zum Spielen nicht geschaffenen Objekten bliebe vieles verborgen, achtlos, unbemerkt. Fragen, die dringend zu stellen sind, kämen nicht auf, Fragen, die in die Zukunft weisen, Fragen, die aus der Alltäglichkeit samt seiner alt-neuen, neu-alten Gegenstände und Handlungen resultieren, Fragen und Themen, die das Zentrum bilden von Tilman Küntzels intermedialer Kunst, einer weitläufigen Alltagskunde, einer unerläßlichen sozialen Seismographie.
Vorwort im Katalg: Strukturgeneratoren und andere Allegorien,
monographischer Katalog zum Werk Tilman Küntzels,
Saarbrücken 2002