Melanie Uerlings
zu Tilman Küntzels Werkkomplex mit Vogelstimmen
Im Dilog mit den Vögeln
In einem Gartencafé konnte man sie belauschen. Die Nachtigall, die Singdrossel und Tilman Küntzel hatten dort ein fröhliches Stelldichein. Während die beiden Damen virtuos ihre äußerst variationsreichen Strophen sangen, pfiff Küntzel ganz nach Vogelart daher. IM DIALOG MIT DEN VÖGELN, so der Titel dieser Installation (Münster 1994), ist ein vom Künstler eingefädeltes Tonband-Rendezvous. Die Laute der Nachtigall, der Singdrossel und das Pfeifen des Künstlers wurden über drei Lautsprecherkanäle wiedergegeben, wobei Küntzel die Audiospuren unabhängig voneinander laufen ließ, so daß der Wechsel und das Aufeinandertreffen der Phrasen zufällig war und immer neue Melodien sich bildeten..
IM DIALOG MIT DEN VÖGELN ist ein Motiv, das Tilman Küntzel immer wieder beschäftigt und das er auf ganz verschiedene Art und Weise gestaltet. Mit sehr reduzierten Mitteln arbeitend, gelingt es ihm dabei, Situationen zu schaffen, die das Verhältnis von Mensch und Natur hinterfragen und damit einen Problemkreis berühren, mit dem sich die Kunst wie die Gesellschaft auseinander zu setzen hat. Als unmittelbare Lautäußerung ist der Vogelgesang eine typische Hervorbringung der Natur und daher geeignet, diese zu repräsentieren. Für den Menschen ist er aber auch Zeichen des kreatürlich Lebendigen und symbolisiert das Ursprüngliche. Dies läßt ihn gerade heute nicht nur als eine Naturerscheinung vorhanden sein, sondern er wird motivischer Träger der Möglichkeit einer Reintegration des Menschen in die Natur und erlaubt eine Identifikation mit der Natur.
Bei Athanasius Kircher war es noch die naturgegebene Kunstfertigkeit des Vogelgesangs, die vor allem faszinierte. So hatte insbesondere der Gesang der Nachtigall lange Zeit musikalischen Vorbildcharakter. Kircher schrieb in seiner Musurgia Universalis (1650):
Billich hat die Natur in der Nachtigallen gleichsam ein vollkommene Ideam der gantzen Music-Kunst vorgestellt auf daß die Capellmeister von derselben lernen sollen wie ein vollkommenes Gesang zu ordiniren wie die moduli in der Gurgel zu formieren.“1
Zugunsten der Autonomie der Kunst verlor jedoch die Imitation von Naturlauten nach und nach an Bedeutung; einher ging die zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur mit einer umfassenden Wandlung des Naturbegriffs. Gegenwärtig kann man jedoch feststellen:
Nie haben die Vögel so schön gepfiffen wie in der Musik des 20. Jahrhunderts, wo die Nachahmungsästhetik als ein längst zugeschlagenes Kapitel der Musikgeschichte erscheint. Mit solcher Nachahmung von Naturerscheinungen in der Musik des 20. Jahrhunderts verbindet sich, was in der Renaissance- und Barockmusik noch gar nicht möglich gewesen wäre, ein Zweifel daran, ob ein rein fiktionales Prinzip eine ausreichende Fundierung von Kunst ermögliche. Sofern Rückgriffe auf ältere ästhetische Anschauungen erfolgen, so zeigen sie zugleich auch, daß das Spannungsverhältnis von Kunst und Natur größer geworden ist. Das läßt die Vögel auch intensiver pfeifen.2
Zunächst fällt der Blick auf das kompositorische Schaffen von Olivier Messiaen, dessen mimetische Aneignung der Natur, vor allem des Vogelgesangs, in erster Linie religiös motiviert war. Ein ganz anderes Feld erschloß sich allerdings auch durch die technische Möglichkeit einer akustischen Reproduktion der Natur durch Schallaufzeichnungen . Um 1900 wurden die ersten Aufnahmen von Vogelstimmen gemacht. Bald gehörten diese in das Repertoire der Geräusch-Archive von Rundfunksendern. Mit Pierre Schaeffer, der aus diesem Fundus schöpfte, wurde der Vogelgesang zum Klangobjekt und seither zählt er zum Vokabular der elektroakustischen Musik. Als Klangobjekt zeichnet sich der Vogelgesang durch seine genuin musikalischen Eigenschaften aus, davon untrennbar ist sein Indizcharakter und seine symbolische Bedeutung. Dieses Phänomens bedient sich auch Tilman Küntzel in seinen Installationen.
Im Sommer 1994 wählte Küntzel für eine Ausstellung des International Art Center in Poznan mit dem Titel „Nichts liegt uns ferner“, zwei große Bäume, in deren Geäst er je einen Lautsprecher plazierte, um – NACHTIGALL TRIFFT SINGDROSSEL – von einem den Gesang der Nachtigall und vom anderen den der Singdrossel erklingen zu lassen. Die Besucher waren wohl überrascht und entzückt, doch bald auch verwundert über die ungewöhnliche Präsenz der beiden Vogelstimmen, denn „auto reverse“ ergab sich ein unermüdliches Duett. In der Natur ist solch ein Zusammentreffen der beiden Singvögel äußerst unwahrscheinlich. Die seltene Nachtigall mit ihrem berühmten Gesang ist meist nur bei Nacht zu hören und liebt das dichte Unterholz. Die Singdrossel dagegen tönt meist von den Baumspitzen und gehört zu den auffälligsten und lautesten Sängerinnen in Wald und Park. Die Saison beider Vögel ist natürlich der Frühling; nur für knapp drei Monate gastiert die Nachtigall konzertierend in Mitteleuropa, spätestens Anfang Juli verstummt ihr Lied, im September zieht sie ins warme Afrika.
Mit seiner Installation NACHTIGALL TRIFFT SINGDROSSEL schuf Tilman Küntzel hier künstlich eine Situation, die zunächst Natürliches vortäuschte. Um die Aufmerksamkeit der Besucher zu wecken, genügt es nicht, ein naturgetreues Bild zu erstellen. Es ist die Wahl sehr markanter Naturlaute und deren ungewöhnliche Präsenz, die Beachtung hervorrufen. Zudem wurde der Vogelgesang hier im Kontext der Kunst bzw. als Kunst präsentiert. Die Installation gab schließlich die Möglichkeit, in den Genuß eines außergewöhnlichen Konzertes zu kommen. Gleichzeitig barg sie aber auch hypothetisch die Aussage „Nichts liegt uns ferner als die Natur“ und pointierte damit das Motto der Ausstellung des International Art Center in Poznan.
Ganz ähnlich verfuhr Tilman Küntzel bei seiner Installation LERCHENFELD/FELDLERCHE (Hamburg 1992). Mit dieser wollte er daran erinnern, daß dort, wo sich jetzt die Hochschule für bildende Künste befindet, an der er selbst studiert hatte, einst eine Feld- und Wiesenlandschaft bestanden haben mag, in der die Lerche ihren Lebensraum fand. Küntzel hatte dafür an der Hausfront des Innenhofes, versteckt im wilden Wein, zwei Außenlautsprecher angebracht. Durch deren Positionierung sollte erreicht werden, daß die Klangquelle phantomartig direkt über der Wiese vor dem Haus wahrgenommen wird und so der Anschein erweckt werde, der zu hörende Gesang der Feldlerche sei nicht eine akustische Reproduktion, sondern natürlichen Ursprungs. Wer in Hamburg an dieser Kunsthochschule studiert, studiert „am Lerchenfeld“, so der Volksmund. Küntzel, inspiriert durch diesen Sprachgebrauch, gab dem „Lerchenfeld“ schließlich seine Feldlerche und damit der namentlichen Benennung den ursprünglichen Bezug zurück.
Die Feldlerche gehört zu einer Charakterart der offenen Landschaft, in Feldern und Wiesen sucht sie ihren Brutplatz. Minutenlang singt sie ihr trillerndes Lied, über ihrem Revier schwirrend und ohne es mit einem Atemzug zu unterbrechen. Das Liebeswerben, ihr heiteres Jubilieren weisen sie als Botin des Frühlings aus, als Minnesänger der Lüfte und Himmelspilger galt sie den Dichtern. Der Gesang der Lerche, der Nachtigall und anderer Singvögel wird als natürlich und künstlich zugleich empfunden. Wobei die Lautäußerungen der Vögel sowohl als eine natürliche Sprache verstanden werden, die rein emotional und instinktiv, d. h. ohne semantische Inhalte ist, wie auch als Musik, die unmittelbar dem Natur-Dasein entspringt. So wird der Vogelgesang zu einer Art Metapher, die das Ursprüngliche und das Elementare der Kunst wie des Lebens umschreibt. Auch für Küntzel ist ein Vogelkonzert in freier Landschaft schon immer ein ganz besonders musikalisches Ereignis gewesen. Auf dem Lande seine Kindheit verbracht, sind ihm die fröhlichen gefiederten Gesellen sehr vertraut. Das Thema der ästhetischen Erfahrung von Natur, dem sich Küntzel hier „am Lerchenfeld“ gewidmet hat, spielte jedoch auch während seines Studiums an der Kunsthochschule Hamburg eine große Rolle.
Für die Kunst ist das Naturstudium bis heute wesentlich, obgleich die Natur längst nicht mehr den Charakter eines idealen Vorbildes hat, das Naturschöne nicht mehr Maßgabe der Kunst und das Nachahmungspostulat ohne Gültigkeit ist.
Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non. Der Künstler ist Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur. Es wandelt sich nur je nach der Einstellung des Menschen in bezug auf seine Reichweite innerhalb dieses Raumes die Zahl und die Art der zu begehenden Wege […].3 Früher schilderte man Dinge, die auf Erden zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und das andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.4
So hat es Paul Klee zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr treffend formuliert. Die Wege des Naturstudiums und die Arten der Anschauung eines Gegenstandes sieht er in metaphysischem Zusammenhang, und den Künstler betrachtet er als Schöpfer neuer Natürlichkeit. Daß das Verhältnis Mensch – Natur problematisch und die Kunst in eine Sackgasse geraten war, verdeutlicht er in seiner berühmten Zeichnung Die Zwitscher-Maschine (1922). Das Abbilden irdischer Dinge konnte für Klee nur noch den Geist trösten, ermunternde Zustände vortäuschen oder die von instinktgeborgten Reizen beschwingte Phantasie anregen. Die Subjektivität der Wahrnehmung und Erfahrung, der Zweifel am objektiven Sein, am natürlich Gegebenen, prägte Klees Œuvre, wo „ethischer Ernst waltet und zugleich koboldisches Kichern“.5
Tilman Küntzels Klangskulptur MANN AM SEE (1989) erscheint wie eine Hommage an jenes Welterleben und in der Art ihrer figürlichen Abstraktion und fragmentarischen Erscheinung erinnert sie an die phantasievollen Figurenspiele und Selbstbildnisse Paul Klees, obgleich kunsthistorisch keine Brücke zu schlagen wäre. Bei Klee steht das „innere Auge“ symbolisch für eine verinnerlichende Anschauung, die über die äußere Erscheinung hinaus zu einer Vermenschlichung des Gegenstandes führt, „die das Ich zum Gegenstand in ein über die optischen Grundlagen hinausgehendes Resonanzverhältnis bring[t].“6 Die Zwiesprache mit der Natur gleicht bei Klee einem dynamischen Zustand, einem Zustand zwischen Traum und Realität, könnte man sagen. Mit dem MANN AM SEE wollte Tilman Küntzel nun dem Moment des wachen Träumens beim Anblick von Fischschwärmen, Vögeln, Wasser und Wolken, ein Denkmal setzten. Das Objekt besteht aus einem Holzkorpus in Form einer menschlichen Figur als Resonanzkörper, der auf einer Spirale in einem Betonsockel verankert ist und aus dessen Kopf lange Edelstahldrähte ragen, die mit einem Steg im Inneren des Korpus verbunden sind. Am Ende der Drähte sind kleine Figuren befestigt, die die Form von kleinen Fischen haben und die laut Küntzel „dem Salzgebäck „Fischli“ ähnlich sind.7 Durch Windbewegungen werden nun Korpus und Drähte in Bewegung gebracht. Die vielen „Fischlis“ stoßen aneinander und erzeugen diffuse Geräusche. Diese werden auf den Resonanzkörper (die menschliche Figur) übertragen und treten durch die Schallöcher, die Küntzel – berechnet nach den Regeln der Instrumentenbaukunst– in Form eines Spazierstocks durch Decke und Boden brach, heraus und werden als Resonanzklang hörbar. Der MANN AM SEE symbolisiert damit gewissermaßen die sinnliche Wahrnehmung, das leibliche Sich-befinden des Menschen in der Natur. Zugleich wird die Natur, hier selbst Mitspielerin der Kunst, auch als Quelle musikalischer Inspiration vorgestellt.
Die Klangskulptur bot Tilman Küntzel später das Modell für den Entwurf einer Arbeit in offener Landschaft, die dann allerdings doch nicht realisiert werden konnte. Als Figur übermenschlicher Größe, hätte der MANN AM SEE noch einmal einen anderen Charakter erhalten, würde zu einem Monument ganz eigener Art werden. Vom Rauschen des Windes heftiger erfaßt, würden die Fischfiguren gewaltiger aneinander stoßen und der voluminöse Korpus des MANNES AM SEE würde in tiefer, weittragender Frequenzlage resonieren. Wie der, als Zeichen kultivierter Annäherung an die Natur, aus dem Holzkorpus herausgeschnittene Spazierstock, so würde die menschliche Figur einen langen Schatten werfen, der sich wie ein Loch in die Landschaft gräbt und eine ähnlich bedrohliche Wirkung hervorruft, wie die gegenständlich fremdartigen Fügungen der surrealen Landschaften René Magrittes.
Traumhaft oder traumatisch – die Zwiesprache mit der Natur erhält jedenfalls heute noch einmal eine andere Qualität. Sie ist mit einem fundamentalen Problem verbunden, das den Naturbegriff ebenso wie das Verhältnis des Menschen zur Natur betrifft. Die Frage, was eigentlich Natur sei, scheint ungelöst. „Natur“ ist längst ein soziales und historisches Produkt des Menschen, man findet entweder eine vom Mensch belassene oder vom Mensch geschaffene Natur vor. Die Trennung von Natur und der Kultur bzw. Zivilisation des Menschen wird viel diskutiert, jedoch wird sie auch gepflegt, indem beidem ein Platz zugewiesen wird, um dann kostspielig Nischen der Begegnung und Versöhnung zu entwerfen. Ein Großteil der Weltbevölkerung lebt und arbeitet in Städten, für sie stellt sich die Natur anders dar. Mit seinem Projekt DIE VÖGEL TORONTOS versuchte Tilman Küntzel darauf aufmerksam zu machen. Innerhalb des Zeitraumes 25. September bis 31. Oktober 1998 wurden in Toronto lebende Ornithologen aufgerufen, zu bestimmten Orten in der Stadt Toronto zu gehen, dort Tonaufnahmen von Vogelstimmen zu machen, dann nach Hause zu gehen und die Aufnahmen abzuspielen. Nicht also, wie üblich, das Vogelreservat und die „freie“ Natur sollten unter Beobachtung stehen, sondern die Stadt Toronto. Der Untersuchungsgegenstand ist ein „Wildleben“, das sich, einst von der Zivilisation verdrängt, seinen Lebensraum zurückerobert. Jedoch nicht als offensiven Feldzug, sondern vorsichtig tastend, bahnte die praktische Suche den Vögeln einen Weg in die Stadt. Das „Ideal“ eines Lebensraumes kennen die Vögel nicht, sie sehen die Welt, wie sie eben ist, richten sich darin ein, soweit und so gut es ihnen möglich ist. Welche Bedingungen dabei erfüllt sein müssen, inwiefern die Vögel sich an die Gegebenheiten der Stadt anpassen oder diese aktiv umgestalten, wie sie ihr Leben entsprechend einzurichten verstehen oder ob sie dabei kurz- oder langfristig in eine für sie unvorhersehbare bedrohliche Falle geraten, bleibt noch unklar. Jedenfalls sind sie nicht nur in den Parks und Grünanlagen, auch an Bahngleisen, Autobahnen, Verkehrsknotenpunkten, auf Plätzen innerstädtischen Menschengetümmels oder der rostigen Teppichklopfstange im dritten Hinterhof eines Mietshauses zu beobachten. So mancher Vogel erfindet hier sein ganz eigenes Lied, geprägt von der schnarrenden Haustürklingel oder dem läutenden Telefon. Doch auch das Versammeln ganzer Vogelscharen ist in der Stadt nicht selten und ein sehr beeindruckendes Ereignis. Akustisch ergibt sich dabei ein hybrides Konzert, ein Mix aus Vogelstimmen und Verkehrsgeräuschen, das den geteilten Lebensraum von Mensch und Tier schallend, einfach als einen gemeinsamen kundmacht. – Kein Zweifel!
Eine Kuh ist lila, und aus ihrem Euter fließt cremig leckere Schokolade. Papas Handy macht die Musik, und Mamas purpurne Rosen wachsen im Badezimmer, wo sie einerlei herumduften und auch einen Sturz in die volle Wanne nicht sonderlich übel nehmen (getestet!). Mein Hobby ist „Pitti“, der ist blau und hat eine Schaukel in seinem Käfig. Am liebsten frißt der die rosa Cracker (die mit dem Erdbeergeschmack). Meinem Bruder geht er auf die Nerven, deshalb muß Pitti im Käfig bleiben, aber dafür habe ich zum Geburtstag ein Delphin-Poster bekommen, daß viel, viel größer ist, als sein blödes Fußball-Plakat (!).
So oder so ähnlich, die dahin geplauderten Wahrheiten der „Kleinen“ unserer Species, die ganz unvermittelt gesellschaftliche Verhältnisse zu spiegeln scheinen. Nun, sie gehören zum Alltag und als solche sind sie Thema der Kunst, wenn auch in stilisierter Form.
Tilman Küntzel, der bei seiner Arbeit diverse Fundstücke menschlicher Zivilisation und Objekte kultureller Prägung herausgreift, macht auch diese zu Gegenständen ästhetischer Erfahrung, wobei sich ihre Erscheinung nicht selten als fremd, im Sinne von komisch, bizarr oder absurd, offenbart. Sie zeigen, daß die Aneignung der Natur wie die Zwiesprache mit der Natur ganz eigene Wege geht. So verzichtete Küntzel in seiner Installation IM DIALOG MIT DEN VÖGELN (Kunstverein Springhornhof 1999) ganz auf authentische Vogelstimmen. Statt dessen brachte er in dem Giebel der Scheune vor dem Ausstellungsgebäude einen Lautsprecher an, der dort, auf roten Gartenharken-Krallen harrend, den Besucher erwartete und ihn mit pfeifenden Vogelstimmen-Imitationen empfing. Der zweite Teil der Arbeit zeigte mehrere Uhren gleichen Typs, die Küntzel in einem „Kitsch“-Laden erworben hatte. Auf dem Zifferblatt dieser Uhren sind zwölf verschiedene Vögel illustriert, die mit den entsprechenden lateinischen Gattungs- und Artennamen bezeichnet sind. Schlägt eine volle Stunde, werden Sequenzen von einem eingebauten Chip abgerufen, die Vogelgesang simulieren. Die Qualität dieser sythetisierten Klänge ist äußerst schlecht, so daß sie nur noch sehr entfernt an echte Vogelstimmen erinnern. Scheinbar ist es allein der Gestus, der genügt, mit dieser Uhr „Natur“ ins Haus zu holen. Er bedeutet Trost über den Verlust der Natur, mit dem „Placebo-Effekt“ der Vergewisserung, daß es sie gibt, daß sie funktioniert und daß die Vögel täglich einerlei singen werden – sofern man ab und zu auch die Batterie wechselt. Auf diesen „Biorhythmus“, der vermeintlich auch Pawlowsche Verhaltensmuster zur Folge haben würde, konnte sich der Ausstellungsbesucher allerdings nicht einstellen. In der Installation wurden die Uhren ganz willkürlich geeicht, zufällig schlug bald diese, bald jene Stunde, „sang“ dieser oder jener Vogel. Unter dieses künstliche Getöne mischte sich schließlich noch das „virtuose“ Gezwitscher von Spielzeugvögeln, die auf einer Stange sitzend, dabei wild mit den Flügeln schlugen und lustig vor sich hin wackelten. Sie rezitierten sogar motivische Phrasen Beethovens! Es ahmt der Mensch hier nicht nur den Gesang der Vögel nach, nein, die Vögel ahmen auch die Musik des Menschen nach. Der DIALOG MIT DEN VÖGELN funktionierte übrigens perfekt. Mit Sensoren ausgestattet, die auf Schall reagieren, brauchte man nur mit den Fingern zu schnipsen, und schon brachte das Vögelchen sein Ständchen. Von den mechanischen Vögeln gleichermaßen kommentiert, wurden auch die arteigenen Signale der Uhren. Tilman Küntzel hat hier eine Zwitscher-Maschinerie vorgestellt, die sich Paul Klee auch im Traum nicht hätte vorstellen können. Zwar sind dergleichen Erfindungen mit dem Beginn der Neuzeit nichts außergewöhnliches mehr, aber als „Verkaufsschlager“ sind sie heute weder der Nachahmung noch dem Wetteifern mit der Natur entsprungen, schon gar nicht wären sie in der Lage, nur irgend einen pädagogischen Zweck zu erfüllen. Sie sind billig zu haben und erfreuen wenigstens noch den spontanen Gast, wenn die eigene Lust an dem Objekt erloschen ist, das nur noch Trübsal bläst.
Hinaus also, in die Natur! Das wäre eine Alternative, die auch Tilman Küntzels jüngste Arbeit vorsieht: WENN ICH EIN VÖGLEIN WÄR‘. Für den Landkreis Lüneburg erdacht, gemahnt es jene Büro- und Verwaltungsangestellten der Stadt an die eigens vorhandene und auch begehbare Naturlandschaft. Küntzel entwarf jedoch kein Elbmarsch-Aquarell, sondern ein Gegenbild. Es ist ein Lautsprecher, alias ein Vogel, alias der Künstler selbst, der steril in einer Glasvitrine hockt, einsam und ohne Flügel. Per Knopfdruck kann man ihn bedienen, dann pfeift er aus der Enge des geschlossenen Kubus seine Vogelphrasen, wenn auch gedämpft, so doch Fröhlichkeit verbreitend. Man kann sich seiner seltenen Art rühmen, die hier in einem Schaukasten zu begucken und auch im O-Ton zu hören ist, unantastbar wie die Reliquien eines Naturkunde-Museums oder einer avancierten Kunst-Galerie.
In: Strukturgeneratoren und andere Allegorien,
monographischer Katalog zum Werk Tilman Küntzels,
Saarbrücken 2002
Anmerkungen:
1 Athanasius Kircher, Musurgia Universalis, 2 Bände, Rom 1650 (deutsche Übersetzung 1662), Reprint Kassel: Bärenreiter 1988, S. 49.
2 Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur. Naturanschauung und musikalische Poetik, Laaber: Laaber 2000, S. 214.
3 Paul Klee, Wege des Naturstudiums und Schöpferische Konfession (Jahr angeben), in: Paul Klee. Kunst – Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formenlehre, hrsg. von Günther Regel, Leipzig: Reclam 1987, S. 67.
4 Ebda., S. 63.
5 Ebda., S. 65.
6 Ebda., S. 68.
7 Tilman Küntzel, Werkkommentar zu MANN AM SEE, in: Tilman Küntzel, Erfindungen zum Ende Millenniums. Kommentare, Reflexionen, Beschreibungen, Ausstellungskatalog Kunstverein Springhornhof in der Lüneburger Heide 1999, S. 45.